Else Nagel –
Ein Leben in Bildern

„Kommen Sie herein“, begrüßt mich Else Nagel und fragt „Haben Sie Zeit mitgebracht?“ Und in der Tat verfliegen die Stunden im Gespräch mit der 95-Jährigen – sie erzählt sehr ausführlich und detailreich. Mit Bildern aus dem Album illustriert sie ihre Erlebnisse – aber es sind keine Fotografien, sondern mehr als 200 eigene Gemälde verschiedenster Techniken. Ein Ölbild zeigt die Heimat ihrer Kindheit, eine Bleistiftzeichnung den Hof der Familie in Groß Schwarzlosen, eine Skizze die Altmark und besonders beeindruckend: Ein Lebenslauf mit der Feder wie hingehaucht. „Ich weiß nicht, wie viele Bilder ich gemalt habe. Viele hängen bei meiner Familie oder ich habe sie verschenkt.“, erklärt die geistig fitte Seniorin.

Die Kunst ist Else Nagel nicht in die Wiege gelegt worden: 1923 kommt sie als zweites Kind einer Köchin und eines Bergmanns, im schlesischen Waldenburg zur Welt. „Das war eine schlimme Zeit, alles kostete Millionen“, erinnert sie sich an die Weltwirtschaftskrise aus der Erzählung ihrer Eltern. Zusammen mit ihren beiden Brüdern, sie war das Mittelkind, „mussten wir tüchtig arbeiten“. Else hütete meist die Gänse und Ziegen. Trotz der Entbehrungen erlebt sie viele glückliche Momente, vor allem mit ihren Brüdern Heinz und Günter: „Sie haben mich immer in Schutz genommen, wenn was war. Sie waren wunderbare Menschen, ich möchte sie in meinem Leben nicht missen.“ Heinz begleitet sie später durch ihr ganzes Leben. Nach einer Kriegsverletzung im Kaukasaus muss sein Bein amputiert werden. Heinz Nagel verbringt sein Leben in Erfurt, arbeitet im Landwirtschaftsministerium und sein Haus zieren unzählige Bilder seiner Schwester. Günter verliert Else Nagel kurz vor Kriegsende an der Front. Er ist erst 18 Jahre alt.

In den 1930er Jahren erlebt die junge Else die Veränderungen in Deutschland Stück für Stück mit. Die Schule fällt ihr leicht, sie schreibt und malt gerne und gut. Sie nimmt an einem Mal-Wettbewerb über die Olympischen Spiele 1936 teil und gewinnt als eine der drei besten eine Autofahrt mit Picknick an die Talsperre. „Die hatten wir noch nie vorher gesehen.“ Else wird immer wieder gebeten, Berichte zu schreiben oder Bilder zu malen. Wie zu NS-Zeiten üblich wird sie als beste ihres Schuljahrgangs zum „Landjahr-Lager“ in Münster delegiert und schreibt dort unter 60 Mädchen den besten Aufsatz. Wie viele „Landjahr-Mädchen“ wird sie Kinderpflegerin, erst auf einem Rittergut in Wuticke (Dosse) für ein Kind, dann im Kindergarten und später in einem katholischen Waisenhaus. Im Frühjahr 1942 wird sie zum Arbeitsdienst zu Bauern nach Schlesien abgeordnet. Nach der Arbeit auf dem Acker kümmert sie sich um die vier kleinen, verwahrlosten Kinder. „Die spuckten in die Stube, das kannte ich nicht“, erinnert sie sich. Da das Bauernpaar sieht, dass Else im Haus und mit den Kindern besser aufgehoben ist, als auf dem Feld, übernimmt sie bald den kompletten Haushalt. „Wir kamen dann alle gut miteinander zurecht, die Kinder mochten mich und haben gehorcht. Es gab nur kaum was zu essen.“

Die Nahrungsmittelknappheit bleibt auch, als Else zum Rüstungsdienst nach Berlin muss: „Das war furchtbar, 100 Mädchen in einem Saal, der sich „Kaiserpavillon“ nannte.“ Zu den Mahlzeiten gibt es Kohl- oder Rübensuppe, immer im Wechsel. Else Nagel kommt in die Buchführung, weil sie gut rechnen kann und muss Löhne rechnen: „Bei dem Geräuschpegel und Gewirr war das schlimm.“ Trotzdem waren die jungen Frauen eine Gemeinschaft und als Kinder ihrer Zeit auch patriotisch: „Als Hitler einmal in Berlin redete, machten wir uns alle hübsch, um zu der Versammlung zu gehen und ihn zu sehen.“, sagt Nagel. Ihre Gruppenführerin erlaubte es dann nicht und ließ sie stattdessen als Feuerwehrleute in der Nacht frieren. „Wir wollten Hitler sehen, weil wir gedacht haben, er führt uns richtig.“, sagt Else Nagel nachdenklich.

Im Frühjahr 1944 wird sie wieder in ihre Heimat beordert und leitet Kindergarten und Hort. Das Kriegsende macht sich bemerkbar, als immer mehr Flüchtlinge kommen, die ebenfalls in der Einrichtung aufgenommen werden. Wie bizarr diese letzten Kriegstage waren, erinnert sich Else Nagel mit Kopfschütteln: „Mein Bruder war gerade umgekommen, Hitler hatte sich das Leben genommen, die Waffen-SS in den Bergen gab nicht auf und wir mussten am 1. Mai noch unseren toten Führer im Stadion feiern.“

Als Bergmann hatte ihr Vater einen „Nicht-Evakuierungs-Schein“, er wurde in der Grube ja noch gebraucht. Trotzdem machte sich dann die Familie auf die Flucht, mit dem Gepäck auf dem Handwagen und später mit 35 Menschen im Vieh-transport. Nach drei Wochen Entbehrung kamen sie in Arneburg im Arbeitsdienstlager an. Weil Else Nagel gut schreiben konnte, stellte sie die Flüchtlingspässe aus. „Dafür bekam ich drei Kartoffeln mehr als die anderen. Die gab ich meinen Eltern.“ Einige Wochen später brachte sie ein Traktor nach Groß Schwarzlosen, in ein Zimmer über einer Garage. „Dort stand ein Tisch und ein Bett aus Brettern und immerhin ein Ofen“, erinnert sich Else Nagel.

In dem altmärkischen Dorf kommt die Familie langsam an und Alltagsroutinen stellen sich ein. Else Nagel baut den Kindergarten auf. Auf dem Weg zur Arbeit schaut ihr häufig ein junger Tischlermeister hinterher. Als er ihr Bänke und Tische für die Einrichtung baut, kommen sie sich näher. „Anfangs hat es nicht gefunkt“, lächelt Else Nagel. Doch dann ging es zum Tanzen und sie lernten sich näher kennen. „Ich war auch von seiner Familie beeindruckt“, erklärt sie. „Die haben all ihr Hab für Flüchtlinge weggegeben.“ Zur Hochzeit borgt sich Else von einer Bauersfrau das Kleid und den Schleier und die Schuhe von einer anderen. Und auch danach bleibt es finanziell knapp – „Es gab damals drei Tischler in Groß Schwarzlosen und drei in Lüderitz, das war nicht leicht“, so Nagel.

1949 schenken sie einem Sohn das Leben, benannt Nikolaus nach einem Vorfahr. „Niko wirft mir manchmal noch neckend vor, dass wir ihn in Scheuerlappen gewickelt haben, weil wir nichts anderes hatten“, lächelt die Seniorin. Und wird kurz danach traurig: Im Jahr 1953 bringt sie Zwillinge mit je drei Pfund Gewicht zur Welt – und verliert sie nach nur einem Tag. „Sie waren Frühgeburten. Heute hätten sie es sicherlich geschafft. Seitdem habe ich mit der Kirche so meine Schwierigkeiten“, erklärt sie mit Tränen in den Augen. „Ich wollte sie auf dem kirchlichen Friedhof in unserem Familiengrab bestatten. Aber da sie nicht getauft waren, ließ der Pfarrer das nicht zu, obwohl meine Schwiegereltern so viel für die Kirche getan hatten.“ Die Gräber auf dem städtischen Friedhof wurden dann nach einigen Jahren eingeebnet.

1957 bekommen Gerhard und Else Nagel noch eine Tochter und nennen sie Cornelia. Else kümmert sich um Kinder und Haushalt, den Garten und den Hof, Tiere und die Großeltern. Zeit für den Kindergarten war da nicht mehr. Auch ihr Mann arbeitet viel – und bekommt, erst 40-jährig, einen Schlaganfall bei der Arbeit auf einem Dach. Else pflegt ihn und er kommt wieder auf die Beine, so dass er weiterarbeiten kann. Im Jahr 1984, er holt gerade den Most aus den eigenen Äpfeln, stirbt Gerhard Nagel an einem Herzinfarkt. „Er hat einen schönen Findling als Grabstein, wie fast alle aus unserer Familie. Die haben wir immer mitgenommen, wenn wir unterwegs schöne gefunden haben.“

Einen Ausgleich zur Familie findet Else Nagel beim Malen. Kurz nach dem Krieg arbeitet sie „22 Wochenstunden in der Volksbildung, weil die Lehrer fehlten“. Als das Fernstudium zur Unterstufenlehrerin nicht klappt, darf sie eine dreijährige Ausbildung zur Malzirkel-Leiterin machen. „Das war gar nicht so einfach, aber ich habe Zuhause alles geschafft und dann mit „Gut“ bestanden.“ 40 Jahre lang leitet sie den Malzirkel in Groß Schwarzlosen, von SchülerInnen über Jugendliche und Erwachsene. „Einer meiner Schüler ist jetzt Professor an der Kunsthochschule in Köln“, sagt sie stolz, „und auch von der Burg Giebichenstein in Halle hatte ich Schülerinnen.“

Seit einigen Jahren malt Else Nagel nicht mehr so leichthändig, die Arthrose setzt ihr zu: „Es kracht überall, wenn ich meine Übungen am Galgen über dem Bett mache“, sagt sie. Über die Kurzzeitpflege während des Urlaubs ihrer Kinder kam sie in die Borghardt Stiftung und lebt hier seit Oktober 2018. „Aber meine Kinder, die fünf Enkel und zwei Urenkel kommen mich oft besuchen.“

Else Nagel kann ihre linke Hand nicht mehr so gut bewegen – „ich kann jetzt nur noch mit dem Löffel essen, aber das schad´ ja nicht.“ Dafür ist die rechte noch kraftvoll und malt weiter. Häufig sitzt die Seniorin in ihrem Rollstuhl im Gelände der Borghardt Stiftung und malt – oder sie skizziert die Szenen in ihrem Altenbereich. So manche Geschichte über andere Bewohnende erzählt sie dabei mit einem verschmitzten Lächeln.

Am Wochenende hat sie einen wichtigen Termin: Einer ihrer Enkel feiert Einzug in das neue Haus und seinen 30. Geburtstag. „Er hat sich 36 meiner Bilder mitgenommen.“, freut sich die Oma. „Da will ich doch sehen, wo sie hängen – und ordentlich mitfeiern.“

Text von Bernd Mitsch